
Kein Netz, kein doppelter Boden – finanzielle Herausforderungen für Careleaver
Nach dem Abitur bin ich ins Ausland gegangen, ein Jahr lang habe ich in Johannesburg in einem theaterpädagogischen Projekt mitgearbeitet. Die Zeit zwischen Auslandsjahr und Uni habe ich nochmal kurz bei meinen Eltern gewohnt: keine Miete und ein gefüllter Kühlschrank. Den Umzugswagen hat mein Bruder geholfen zu beladen, meine Mutter gefahren und mein Vater bezahlt. Warum erzähle ich das? Weil uns viele unserer Privilegien oftmals gar nicht bewusst sind – und weil Careleaver, also junge Menschen, die aus der Unterstützungsstruktur der Jugendhilfe heraustreten, auf solche Netzwerke nicht zurückgreifen können.
Dass junge Erwachsene vor Herausforderungen stehen, sich neu zu orientieren und ihren Platz im Leben zu finden, ist kennzeichnend für diese Lebensphase. Doch was passiert, wenn all diese Herausforderungen allein gemeistert werden müssen – ohne familiären Rückhalt in alltäglichen, emotionalen und vor allem finanziellen Fragen?
Abrupter Übergang
Careleaver verlassen die Jugendhilfe in der Regel mit 18 oder spätestens 21 Jahren – also zu einem festgesetzten Zeitpunkt, der nichts mit individueller Reife, sondern allein mit Altersgrenzen im System zu tun hat. Für viele bedeutet das, gleichzeitig eine Schule abzuschließen, Prüfungen vorzubereiten oder schon eine Ausbildung zu beginnen – und parallel eine Wohnung suchen, Möbel anschaffen und den Alltag organisieren. Alles auf einmal. Während Gleichaltrige diese Übergangs- und Umbruchphasen meist mit familiärer Unterstützung bewältigen, stehen Careleaver im entscheidenden Moment oft ohne Netz und doppelten Boden da – eine eklatante Ungleichheit (vgl. Matthes 2021). Wie Moravec und Mitterfellner (2024) treffend formulieren, wird der Auszug deshalb für viele zur „kollektiven Bruchstelle“.
Finanzielle Selbstständigkeit – von Anfang an existenziell
Mit dem Ende der Jugendhilfe beginnt für Careleaver sofort die Phase finanzieller Eigenverantwortung. Rücklagen fehlen, das Wissen über Versicherungen, Mietverträge oder Kontoorganisation ist oft nicht vorhanden, und verlässliche Unterstützung bei Anträgen entfällt. Viele sind auf staatliche Leistungen angewiesen: Berufsausbildungsbeihilfe (BAB), BAföG oder – wenn Ausbildung oder Studium noch gar nicht begonnen haben – Bürgergeld. Verzögerungen oder Lücken zwischen Anträgen und Bewilligungen können jedoch existenzbedrohende Folgen haben: es droht, dass Rechnungen nicht bezahlt werden können, Geld fürs Essen fehlt oder sogar Wohnungslosigkeit eintritt (vgl. Rein & Osswald 2024). Neben der materiellen Unsicherheit geht dies mit einer hohen psychischen Belastung einher (vgl. Köngeter et al. 2012).
Was tun, wenn das Geld fürs Essen fehlt?
In akuten Situationen greifen Notfallfonds, wie sie etwa der Careleaver e.V. bereitstellt. Corinna Schwieger, Referentin des Vereins, berichtet, dass Anfragen zu fehlendem Geld für Lebensmittel mittlerweile ein „Klassiker“ seien. Krisen sind Alltag im Leben vieler Careleaver. Solche zivilgesellschaftlichen Angebote lindern im Notfall, können aber nicht ersetzen, was eigentlich Aufgabe staatlicher Strukturen wäre: verlässliche Übergänge ohne existenzielle Brüche.
Umdenken erforderlich: Übergänge statt Brüche
Statt harter Schnitte braucht es Übergänge mit Zeit und Begleitung. In der Praxis aber endet Jugendhilfe abrupt, weil Ansprüche strikt an Altersgrenzen gebunden sind. Dabei zeigt das Hildesheimer Modellprojekt (Feyer et al. 2022): Schon durch zeitliche Ressourcen, kontinuierliche Begleitung und flexible Hilfen lassen sich finanzielle Problemlagen deutlich verringern. Politik und Praxis müssten die Empfehlungen – etwa die Einführung von kontinuierlichen Ansprechpersonen im Übergang – systematisch aufgreifen.
Fachkräfte als Schlüsselressource
Fachkräfte nehmen im Übergang eine wesentliche Rolle ein, da sie junge Menschen vor Ort unterstützen können. Für sie stehen bereits unterschiedliche Materialien bereit:
- Raabe und Thomas (2019) informieren über Rechte im Übergang.
- Die IGfH-Broschüre „Durchblick“ (2024a) unterstützt bei Fragen von Ausbildung bis Wohnen.
- Ein Ratgeber des iff (2025) bereitet Finanzwissen praxisnah für die Arbeit mit Careleavern auf.
Trotz dieser Angebote bestehen Wissenslücken: Materialien erreichen nicht flächendeckend alle Einrichtungen, und die verbindliche Integration in den pädagogischen Alltag fehlt. Hier könnte auch die Durchführung von Finanz-Workshops in Wohngruppen helfen (vgl. Deutschland im Plus 2025).
Was strukturell zu ändern ist
Die Verbesserung der Ausgangssituation für Careleaver muss auf mehreren Ebenen erfolgen. Notwendig sind vor allem:
- Recht auf verlängerte Unterstützung: Jugendhilfe nicht abrupt beenden, sondern mit einem Rechtsanspruch „Leaving Care“ Nachbetreuung bis mindestens 25 sicherstellen.
- Dauerhafte Ansprechbarkeit: Careleaver-Zentren und Beratungsstellen verlässlich finanzieren und bundesweit etablieren.
- Partizipative Weiterentwicklung: Careleaver selbst müssen gehört werden. Das Hearing im Deutschen Bundestag (IGfH 2024b) zeigt, dass ihre Stimmen klare Hinweise auf Bedarfe liefern – Praxis und Politik sollten diese konsequent umsetzen.

Autorinnen-Info
Clara Baumann (M.A. Erwachsenenbildung/Lebenslanges Lernen) forscht als wissenschaftliche Referentin am institut für finanzdienstleistungen e.V. (iff) zu Themen der finanziellen Bildung, insbesondere für vulnerable Zielgruppen wie Überschuldete und Careleaver.
Literaturverzeichnis
Köngeter, Stefan; Schröer, Wolfgang; Zeller, Maren (2012): Statuspassage „Leaving Care“: Biografische Herausforderungen nach der Heimerziehung. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 7 (3), S. 5–6.